In den letzten Jahren hat sich viel getan, wir haben viele Menschen kennengelernt, vielfältige Momente erlebt.
Die Antwort auf das Warum kann individuell und doch so einfach sein.
Stellvertretend für viele Lächeln, zwei Fotos. Und stellvertretend für viele Lebensgeschichten, eine persönliche Schilderung.


12. September 2017: Eine ganz aktuelle Geschichte von einem der jungen Männer, die seit langem bei uns wohnen, die uns bei "Klosterneuburg hilft" beschäftigt und besorgt, auch in Zusammenhang mit der Gesamtsituation betreffend afghanischer Flüchtlinge, und rund 30 weiteren unserer neuen Mitmenschen in der Stadt, die in einer ähnlichen Lage sind. Caren hat aus aktuellem Anlass seine Geschichte niedergeschrieben:

"Ich will euch eine Geschichte erzählen. Sie ist wahr und sehr traurig. (Und sorry, sie passt nicht in einen 140 Zeichen Tweet, weil Menschenleben sich nicht reduzieren lassen.)
Ein junger Afghane wohnt seit fast drei Jahren in unserer Gemeinde. Jetzt ist er 19 Jahre alt.

Er lebte mit seiner Familie im Haus des Onkels, der relativ wohlhabend war. Sein Vater hatte einen Arm und ein Bein verloren und führte einen kleinen Laden für Damenbekleidung und Drogeriebedarf. Der Onkel wurde von allen Kindern geliebt, weil er nett mit ihnen war. Aber er war auch sehr religiös, deshalb ging dieser Bursche am Vormittag in die Koranschule, und am Nachmittag in eine richtige Schule.
Eines Tages lud der Onkel den Burschen zu einer Autofahrt ein. Das hatten sie schon früher getan, um irgendwo in einer netten Gegend ein Picknick zu machen. Und da man in Afghanistan sehr viel Respekt hat vor dem Vater oder dem Onkel, fragt man nicht wo es hingeht.
Kurz und gut, sie fahren zu einem ummauerten Gebäudekomplex, wo der Onkel den Burschen in einen Raum bringt und ihm sagt, er möge dort warten. Diesen Onkel sieht er nie mehr wieder.
Der Raum befindet sich in einem Trainingscamp der Taliban.

Der Bursche wird tagelang in dem Raum gefangengehalten, seine einzige Verbindung zur Außenwelt ist ein winziges Fenster in den Innenhof, durch das er sieht, dass draußen Männer mit Waffen hantieren. Er hat Angst, man bringt ihm Essen, sagt, sein Onkel kommt bald.

Nach einer Woche holt ihn jemand in den Hof, er soll mitmachen, lernen, wie man eine Waffe benutzt. An diesem Abend wird sein Raum nicht abgeschlossen. Er flieht über eine Treppe an der Außenmauer und springt 2 m in die Tiefe, wobei er sich schwer verletzt. Er schafft es bis zum nächsten Dorf, wo ihn jemand mit in sein Haus nimmt und seinen Vater anruft. Der Vater sagt: Bleib, ich schicke dir den Bruder der Mutter. Ein letztes Mal spricht der Bursche mit seinem Vater. Der Bruder der Mutter holt ihn am nächsten Tag und bringt ihn in ein Krankenhaus. Dort bleibt er 4 Monate lang. Dann sagt ihm dieser Onkel, es ist zu gefährlich nach Hause zu gehen. Er bringt ihn nach Kabul, von wo er in den Iran fliegt und sich mit Hilfe von Schleppern bis nach Österreich durchschlägt. Unterwegs telefoniert er ein letztes Mal mit dem Onkel, der ihm geholfen hat. Der sagt ihm, auch sein Vater sei bei den Taliban gewesen und hätte dabei seine Verletzungen erlitten. Und der andere Onkel habe sein Geld mit dem "Verkauf" von jungen Burschen an die Taliban verdient. Was geht da in einem 16jährigen vor, wenn er erfährt, daß er von der eigenen Familie so verraten und verkauft worden ist?
Er vermisst die Familie und hasst sie gleichzeitig. Er sagt: Ich will nicht zum Mörder werden und Unschuldige töten.

Ich kenne diesen Jungen, seit er in Klosterneuburg ist und habe seine Entwicklung mitverfolgt. Es war schwer am Anfang. Er war komplett traumatisiert. Er hat kein Wort geredet und keinen unser Deutschkurse besucht.
Aber eines Tages kommt er zu mir, auf dem Hof der Magdeburgkaserne und sagt, auf Deutsch: "Caren, ich brauche einen Deutschkurs!" Er hatte sich die Grundlagen der Sprache auf YouTube beigebracht.

Seitdem sind wir Freunde. Es ist nicht immer einfach. Es gibt viel zum Reden. Aber es geht. Er sagt: "Menschen sind Menschen, egal, welche Religion sie haben." So ist es.
Er hat mittlerweile sein B1 Zertifikat gemacht und einen Pflichtschulkurs begonnen. Er stellt viele Regeln und Traditionen seiner Heimat sehr in Frage. Er stellt fest, daß viele Dinge, die ihm beigebracht wurden, nichts mit dem Koran zu tun haben.
Eine Abschiebung nach Afghanistan wäre für ihn lebensgefährlich - denn die Taliban werden Rache nehmen für seinen "Verrat".

Der Staat Österreich hat ihm seine Geschichte nicht geglaubt. Der Staat glaubt auch, dass Afghanistan ein sicheres Land ist, obwohl alle Institutionen bis hin zum Europäischen Menschengerichtshof das anders sehen. Aber das ist eine politische Entscheidung, keine humanitäre.

Morgen hat er seinen Termin vor dem Bundesverwaltungsgericht, das vielleicht über seine Zukunft entscheidet.
Ich bin da und viele andere von uns auch. Um ihm zu zeigen, dass wir auf seiner Seite sind. Und ihr könnt jetzt alle für euch selbst entscheiden, was ihr glaubt oder für richtig haltet!"